The Final Chapters: Twentieth-Century Jewish Communities in the Muslim World. Comparative Perspectives

The Final Chapters: Twentieth-Century Jewish Communities in the Muslim World. Comparative Perspectives

Organisatoren
Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur, Ludwig-Maximilians-Universität München
PLZ
80333
Ort
München
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
21.06.2022 - 22.06.2022
Von
Marguerite Bertheau, Jüdische Geschichte und Kultur, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die internationale Konferenz „The Final Chapters: Twentieth-Century Jewish Communities in the Muslim World. Comparative Perspectives“, die im Historischen Kolleg in München stattfand, war die erste speziell diesem Thema gewidmete Konferenz in Deutschland, so MICHAEL BRENNER in seiner Begrüßung. Die ursprünglich für 2020 geplante Veranstaltung konnte nach zweimaliger Terminverschiebung nun endlich in Präsenz stattfinden.

In seiner Keynote Lecture umriss NORMAN STILLMAN (Jerusalem/Oklahoma) den historischen Hintergrund für die detaillierten und regional fokussierten Studien, die am nächsten Tag präsentiert werden sollten. Beginnend mit dem lange Zeit relativ friedlichen Zusammenleben der jüdischen Gemeinschaften mit den sie umgebenden Gesellschaften der muslimischen Welt, ging er dann auf die wachsenden Ungleichheiten ein, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen begannen. Diese führte er hauptsächlich auf den Stand unterschiedlicher Bildung aufgrund von jüdischen Missionarsschulen aus u.a. Frankreich zurück, ebenso wie auf die koloniale Ausbreitung Europas, die für die jüdische Bevölkerung oftmals mehr Anknüpfungspunkte bot als aufkommende arabische Nationalbewegungen, die häufig starke antisemitische und auch antizionistische Züge aufwiesen. Doch auch die Kolonialregierungen waren größtenteils geprägt von Antisemitismus, sodass derartige Adaptionsversuche ebenfalls nicht vor Anfeindungen schützten und letztendlich die Auswanderung als letzter Ausweg blieb.

Der folgende Tag begann mit einem Panel zum jüdisch-muslimischen Verhältnis in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in welchem anhand unterschiedlicher Quellenzugriffe und regionaler Schwerpunkte die teilweise engen Verflechtungen der beiden Gemeinschaften dargestellt wurden. MENASHE ANZI (Be’er Scheva) gab anhand einer Fallstudie Einblick in die Vielschichtigkeit der juristischen Praxis im jemenitischen Sanaa, wo es keine binäre Teilung von Rechtssystemen innerhalb der Gemeinschaften gab, sondern betroffene Personen auswählen konnten, an welches Gericht sie sich mit ihrem Anliegen wandten. Dabei war das Wissen über beide Rechtsstrukturen so groß, dass diese Entscheidung oftmals anhand des antizipierten Urteils gefällt wurde.

Mit einer Fallstudie zu muslimisch-jüdischen sozialen Netzwerken im spätosmanischen Palästina brachte MICHELLE CAMPOS (Pennsylvania) ein eindrucksvolles Beispiel für lokale Interaktionen und engverstrickte städtische Gemeinschaften mit, das zeigte, wie eng verflochten jüdische, christliche und muslimische Familien in Jerusalem während der Spätphase des Osmanischen Reichs waren. Anhand der Geschichte zweier „Milk brothers“, die fast zeitgleich in ein jüdisches und ein muslimisches Elternhaus geboren wurden, und deren Mütter sich trafen, um gegenseitig das andere Kind zu stillen, wurde die Verbindung der Gemeinschaften aufgezeigt. Sie ist heute nur schwer zu rekonstruieren ist, da Rituale und Bräuche selten in Quellen überliefert werden. Damit stellte sie gleichzeitig ein starkes Argument für die Erforschung urbaner Kultur auf, mit dem Ziel die „gelebte Erfahrung“ sichtbar zu machen.

Wie deutlich räumliche Nähe und soziale Interaktion zusammenhängen, war auch zentral bei den Ausführungen ALON TAMs (Los Angeles), der mit einer Fallstudie zu Kaffeehäusern in Kairo einen breiten Fächer an Themen von Modernisierung, Bürgerlichkeit und Gemeinschaft aufspannte, die Muslime und Juden miteinander verbanden. Selbst als sich nach der ägyptischen Niederlage im Krieg von 1948 das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen spürbar verschlechterte, gab es Fälle, in denen die Beziehungen noch vertieft wurden, da sie auf tiefen Wurzeln der Freundschaft beruhten.

Das zweite Panel legte den Fokus auf internationale Netzwerke und ihre Wechselwirkungen mit den jüdischen Gemeinden im Mittleren Osten. In ihrer Präsentation stellte SASHA GOLDSTEIN-SABBAH (Groningen) transnationale philanthropische Netzwerke vor, die mit Geldern aus dem Mittleren Osten regionale aber auch transnationale Projekte förderten. Dabei hielt sie fest, dass die jüdischen Gemeinden in den unterschiedlichen MENA-Staaten natürlich sehr divers waren, aber in vielerlei Hinsicht Gemeinsamkeiten teilten, wie beispielsweise den Umgang mit kolonialer Herrschaft. Dementsprechend können diese für eine Studie zu transnationaler Philanthropie fruchtbar zusammen analysiert werden. Ihrer Analyse zufolge waren das Engagement und der Aktivismus für Juden in Europa und vor allem Osteuropa motiviert durch ein Gefühl von moralischer, sozialer und religiöser Verpflichtung, ebenso wie durch politische Abwägung. Außerdem trug das Engagement zur Stärkung der eigenen Gemeinschaft bei.

LIOR STERNFELD (Pennsylvania) betrachtete die Situation der Juden im Iran vor und nach der Revolution von 1979 aus westlicher Perspektive. Dabei stellte er zunächst vor, inwieweit die Zeitspanne von Beginn der 1950er-Jahre bis zum Ende der 1970er-Jahre für Juden im Iran eine deutliche Verbesserung der sozialen Umstände bedeutet hatte. Von den im Iran lebenden Juden waren in den 1970er-Jahren 80 Prozent Teil der bürgerlichen Mittelschicht. Die durchschnittliche politische Beteiligung war sehr hoch, vor allem unter den Mitgliedern der kommunistischen Partei. Während der vorrevolutionären Spannungen wurde die internationale Sorge um Juden im Iran größer, und die Situation dort in der israelischen Presse sogar mit Nazi-Deutschland verglichen. Dies spiegelte aber nicht unbedingt das reale Empfinden der verbliebenen iranischen Juden wider, wofür etwa die Tatsache spreche, dass viele Juden, während sie noch Freizügigkeit besaßen, zwar Reisen nach Israel unternahmen, aber freiwillig wieder in den Iran zurückkehrten. Seit der Revolution werde das Verhältnis zwischen der im Iran verbliebenen jüdischen Gemeinde und der Regierung vor allem in der israelischen Presse und den US-amerikanischen Diaspora-Gemeinschaften oft überspitzt dargestellt. Im Iran lebende Juden seien iranische Staatsbürger und hätten alle dementsprechenden Rechte; des Weiteren unterstütze die Iranische Regierung Minderheiten und finanziere damit auch Gottesdienste in Synagogen, hebräische Schulen und weitere Gemeindeinstitutionen. Dennoch haben die Attacken Irans gegen Israel auch negative Auswirkungen auf das Leben der iranischen Juden, die sich öffentlich vom jüdischen Staat distanzieren müssen.

Das letzte Panel der Konferenz trug den Titel „History and Memory“ und beschäftigte sich mit Erinnerung und Geschichtskonstruktion. Der Vortrag von ORIT BASHKIN (Chichago) legte dabei seinen Fokus auf drei jüdische kommunistische Frauen aus dem Irak. Ihren „Silenced Voices“ gab sie mit ihrer Fallstudie eine Stimme und brachte so einen Teil der irakischen Geschichte und vor allem der kommunistischen Partei wieder zum Leben. Die Aktivitäten aller drei Frauen in der kommunistischen Partei waren begründet in dem Streben nach Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und der Hoffnung auf größere religiöse Freiheit, sowie in der Opposition zu der Regierung und zum ethnischem Nationalismus. Das große Engagement, das diese Frauen und noch viele weitere einbrachten, legt die Frage offen, warum die Geschichten politischer Aktivistinnen so wenig erinnert werden. Laut Orit Bashkin haben die Frauen ihrer Fallstudien einerseits ihre eigene Beteiligung bei Festnahmen deutlich heruntergespielt, sodass sie in Akten und vielen anderen Quellen nicht nachzuvollziehen sind, und andererseits werden in großen Narrativen kommunistischer Parteien oder Gruppen häufig die Widerstände oder Handlungen von kommunistischen Frauen derartig verallgemeinert, dass ihre individuellen Handlungen nicht mehr zu rekonstruieren sind.

In der Präsentation von AOMAR BOUM (Los Angeles) ging es um die Frage, wie das Verhältnis von Juden und Muslimen in Marokko heute in Texten, Erzählungen und fiktionalen Geschichten im nichtakademischen Kontext dargestellt wird. Seit den Osloer Verträgen in den 1990er-Jahren gab es aufgrund der erhofften Normalisierung zwischen Israel und den Palästinensern ein neues Interesse am jüdisch-muslimischen Verhältnis und auch eine neue Ära von Literatur eben darüber. In Publikationen und der Presse wurde von dem bis dahin starken Fokus auf den Israel-Palästina-Konflikt abgerückt und ein größeres Interesse auf jüdisches kulturelles Leben gelegt. Dabei wurde das Wissen für diese Bücher hauptsächlich von auto-didaktischen Historiker:innen produziert, die oftmals zwar den konkreten Kontext gut kennen, aber kein tiefergreifendes Verständnis der jüdischen Geschichte haben. Dabei wurden diese nicht-akademischen Autor:innen nicht durch Regeln und codes of coduct der Universitäten eingeschränkt, welche beispielsweise verboten, Texte israelischer Intellektueller zu veröffentlichen.

Zum Ende der Konferenz wurde der akademische Austausch durch eine persönliche Perspektive bereichert. Die Autorin MONA YAHIA (Köln) las aus ihrem autofiktionalen Roman When the Grey Beetles took over Bagdad, in welchem sie angelehnt an ihre eigenen Erfahrungen über das Leben einer jüdischen Jugendlichen im Irak der 1960er-Jahre schreibt, ihre Lebenssituation eindrücklich wiedergibt und die Vorbereitungen der Familie für ihre Flucht ins Ausland beschreibt. In drei vorgelesenen Textabschnitten ging sie emotional tiefgründig und mit eindrucksvollen sprachlichen Bildern auf Fragen der Selbstbestimmung, des politischen Geschehens der Zeit und des Anpassungsdrucks ein.

Konferenzübersicht:

Keynote Lecture

Introduction: Michael Brenner (LMU München)

Norman Stillman (Jerusalem/University of Oklahoma): Prelude to Exodus: The Transformation of the Jews of the Islamic World in Modern Times

Panel I: Jewish-Muslim Relations in the First Half of the Twentieth Century
Chair: Philipp Lenhard (LMU München)

Menashe Anzi (Ben Gurion University): Relations between Muslims and Jews in Sanaa: Between the Muslim Court and the Jewish Court

Michelle Campos (Pennsylvania State University): Partners, Friends, and Neighbors? Jewish-Muslim Social Networks in Late Ottoman Palestine between Empiricism and Nostalgia

Alon Tam (UCLA): Coffeehouse Al-Sharq: Jews, Muslims, and Public Places in mid-20th Century Cairo

Panel II: International Networks
Chair: Ronny Vollandt (LMU München)

Sasha Goldstein-Sabbah (University of Groningen): From Alexandria with Love: Middle Eastern Jewry as Donors within Transnational Philanthropic Networks

Lior Sternfeld (Pennsylvania State University): Waiting to be Rescued? The Condition of the Jews of Iran in Western Eyes before and after the 1979 Revolution

Panel III: History and Memory
Chair: Yossef Schwartz (Tel Aviv University/LMU München)

Orit Bashkin (University of Chicago): The Silenced Voices of Sa'ida – Memories of the Gendered Left in Iraq

Aomar Boum (UCLA): Re-Discovering Jews: Non-Academic Historians Write Local Jewish Histories (Morocco)

Book Reading and Discussion with Author

Mona Yahia (Köln): When the Grey Beetles Took Over Baghdad

Chair and Conclusion: Daniel Mahla (LMU München)

Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch
Sprache des Berichts